Versicherungspflicht für alle Selbstständigen oder sinnvolle Amnestielösung?

Am 06.10.1995 legte der Bundesrechnungshof der damaligen Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl und dem Sozialminister Norbert Blüm folgenden Bericht vor (Auszug aus BT-Drucksache 13/2600):

Selbständig tätige Lehrer und Erzieher, Pflegepersonen sowie Hebammen und Entbindungspfleger sind grundsätzlich in der gesetzlichen Rentenversicherung bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte versicherungspflichtig und haben an diese Beiträge zu entrichten. Sie sind nicht verpflichtet, sich dort zu melden. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ist ihrer Aufgabe, alle Versicherungspflichtigen vollständig zu erfassen und von ihnen Beiträge zu erheben, bisher nicht ausreichend nachgekommen.

Der Bundesrechnungshof hält es für erforderlich, eine gesetzliche Meldepflicht für versicherungspflichtige Selbständige sowie Auskunfts- und Mitteilungspflichten Dritter einzuführen.

Dass Empfehlungen des Bundesrechungshofes nicht zu übertriebener Hast der kritisierten Bundesregierung führen, ist aus anderen Beispielen bekannt. Auch hier ratterten sodann 5 Jahre die Ministeriumsmühlen, bis eine Meldepflicht in der Vorschrift des § 190a SGB VI ab dem 01.01.2001 gesetzlich fixiert wurde. Nach dieser Vorschrift sind selbständig Tätige nach bestimmten Vorschriften des § 2 SGB VI verpflichtet, innerhalb von 3 Monaten die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit anzuzeigen. Gleichzeitig wurde auch für den Fall eines Zuwiderhandelns eine Bußgeldvorschrift in § 320 SGB VI fixiert.

Das große Manko, das der Bundesrechnungshof bereits vor 19 Jahren aufzeigen wollte, ist jedoch noch immer nicht beseitigt worden. Zwar wurde eine sogenannte Meldepflicht eingeführt, nicht jedoch eine Auskunfts- und Mitteilungspflicht Dritter (z.B. Finanz-, Gewerbeamt). Der Gesetzgeber hat es sich lediglich als Option vorbehalten, eine entsprechende Regelung zu treffen. Diese Option wird in § 190a Abs. 2 SGB VI benannt:

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Vorschriften zur Erfassung der nach § 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 und 9 versicherten Selbständigen zu erlassen.

Diese Rechtsverordnung ist bis heute nicht ergangen.

Nachdem auch die Bußgeldregelung des § 320 SGB VI, zumindest in meiner beruflichen Praxis in Verbindung mit der Meldepflicht gem. § 190a SGB VI, nicht angewandt wird, hat die fehlende Kontrolle der DRV über tatsächlich versicherungspflichtigen Selbstständigen folgende Auswirkung:

Den Ruf nach einer Versicherungspflicht für alle Selbstständigen

Nach meiner beruflichen Erfahrung ist bestenfalls ein Drittel der heute schon versicherungspflichtigen Selbstständigen auch tatsächlich erfasst. Längst ist auch der Bundesregierung aufgefallen, dass zwischen den „erfassten“ versicherungspflichtigen Selbstständigen und den „tatsächlich“ versicherungspflichtigen Selbstständigen eine enorme Diskrepanz besteht.

Vielleicht aus Mangel an Wissen über die bereits bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten oder aus Populismus oder anderen Gründen wird aufgrund der geringen Zahl der rentenrechtlich absicherten Selbstständigen ohne Unterschied eine Versicherungspflicht für alle Selbstständigen gefordert.

Dabei ist die Liste der bereits heute (eigentlich) versicherungspflichtigen Selbstständigen in § 2 SGB VI recht lang und erfasst einen großen Personenkreis, der bis zurück in die Gesetzgebung der Weimarer Republik, als „sozial schützenswert“ eingestuft wurde.

Aus der Situation, dass sich nur „die Dummen“ melden, andere jedoch mangels Erfassung keine Beiträge leisten, entsteht eine große Unsicherheit und Ungerechtigkeit. So höre ich nicht selten von der „ertappten“ Mandantschaft, dass andere „Kollegen“ nichts zahlen bräuchten und dieser und jener den Tipp gab, sich bloß nicht bei der DRV zu melden. Tatsächlich ist die Lage so, dass wenn sich der Selbstständige nicht selber meldet, nur ein „dummer Zufall“ der DRV behilflich ist: Solche Zufälle sind z.B.

  • Scheidungsverfahren (im Zuge des Versorgungsausgleichsverfahrens)
  • Jeglicher Schriftwechsel mit der DRV, z.B. um Kindererziehungszeiten geltend zu     machen
  • Betriebsprüfungen bei einem Auftraggeber (beliebt z.B. an Lehreinrichtungen und Volkshochschulen) mit anschließenden Querverweisen
  • Denunziationen jeder Art, sei es vom Ex-Partner , Nachbarn oder „Geschäftsfreuden“

Wenn dann der Beitragsbescheid über 20.000 €, zahlbar innerhalb von zwei Wochen, auf dem Tisch liegt, stellt sich selbstverständlich regelmäßig die Frage:

Warum ich, warum nicht (auch) die anderen?

Dem allen hätte der Gesetzgeber bereits seit Jahren entgegentreten können, um für tatsächliche Beitragsgerechtigkeit zu sorgen. Hierzu bedarf es nicht der Umschreibung aller Sozialgesetzbücher und eines umfassenden Paradigmenwechsels hinsichtlich der sinnvollen sozialen Absicherung verschiedener Gruppen von Selbständigen. Es bedarf lediglich

  1. Der Einführung einer durch § 190a Abs. 2 SGB VI ermöglichten Rechtsverordnung
  2. Der Einführung einer Art Amnestieregelung

Amnestieregelungen sind insbesondere aus dem Steuerrecht bekannt. Es gibt sie jedoch, wie den jüngst für den Bereich der Krankenversicherung geschaffenen § 256a SGB V, auch im Bereich der Sozialversicherung. Diese Vorschrift könnte quasi auch als Blaupause für eine Amnestieregelung für versicherungspflichtige Selbstständige gelten:

(1) Zeigt ein Versicherter das Vorliegen der Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 5 Absatz 1 Nummer 13 (§ 2 Nr. … SGB VI)erst nach einem der in § 186 Absatz 11 Satz 1 und 2 (§ …) genannten Zeitpunkte an, soll die Krankenkasse (der Rentenversicherungsträger) die für die Zeit seit dem Eintritt der Versicherungspflicht nachzuzahlenden Beiträge angemessen ermäßigen; darauf entfallende Säumniszuschläge nach § 24 des Vierten Buches sind vollständig zu erlassen.

 (2) Erfolgt die Anzeige nach Absatz 1 bis zum 31. Dezember 2013 (201…), soll die Krankenkasse (der Rentenversicherungsträger) den für die Zeit seit dem Eintritt der Versicherungspflicht nachzuzahlenden Beitrag und die darauf entfallenden Säumniszuschläge nach § 24 des Vierten Buches erlassen. 2Satz 1 gilt für bis zum 31. Juli 2013 (201…) erfolgte Anzeigen der Versicherungspflicht nach § 5 Absatz 1 Nummer 13 (§ 2 Nr. … SGB VI) für noch ausstehende Beiträge und Säumniszuschläge entsprechend.

 Die Vorteile einer solchen Regelung liegen auf der Hand:

  1. Hohe Umsetzungsgeschwindigkeit
  2. Beitragsgerechtigkeit innerhalb der betroffenen Personengruppen wird hergestellt
  3. Soziale Absicherung wird hergestellt
  4. Altersarmut ehemaliger Selbstständiger wird bekämpft
  5. Sozialverträglichkeit und Auflösung der „Illegalität“ auch für Personen, die bisher (über Jahre) nicht erfasst waren
  6. Die Forderung einer Beitragspflicht für alle Selbstständigen verebbt

Wer könnte sich gegen eine solche Regelung stellen?

  1. Ideologen, die an der Einheitsversicherung aller Personengruppen hängen
  2. Die private Versicherungswirtschaft, denen es bisher gelungen ist, die Frage der Versicherungspflicht aller Selbstständigen dahingehend zu lenken, dass diese Pflichtversicherung auch in ihren Versicherungsunternehmen durchgeführt werden könnte (vgl. BT-Drucksache 17/10793)

Die nächsten Monate werden zeigen, in welche Richtung die Reise mit Frau Bundesministerium Nahles gehen wird. Eines steht bereits jetzt schon fest:

Selbstständige werden weiterhin durch

registrierte Rentenberater

kompetent durch den Dschungel der Sozialversicherung begleitet.